BETRIEBSÜBERGANG – ANTEILIGER ÜBERGANG EINES ARBEITSVERHÄLTNISSES AUF MEHRERE ERWERBER?
Bei der Übertragung von Betrieben oder Betriebsteilen kommt es regelmäßig zum „automatischen“ Übergang bestehender Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber. Der Übergang von Arbeitsverhältnissen anlässlich eines Betriebsübergangs ist von großer praktischer Relevanz und immer wieder Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen. Im Einzelfall können sich schwierige Fragen hinsichtlich der Zuordnung bestehender Arbeitsverhältnisse stellen. Der Europäische Gerichtshof („EuGH“) hat nun entschieden, dass auch der anteilige Übergang eines Arbeitsverhältnisses auf mehrere Erwerber grundsätzlich möglich ist.
1. Tenor der Entscheidung des EuGH
Mit Urteil vom 26. März 2020, C-344/18 (ISS Facility Services NV / Sonia Govaerts) hat der EuGH entschieden, dass im Falle eines Betriebsübergangs, an dem mehrere Erwerber beteiligt sind, die Rechte und Pflichten aus einem Arbeitsvertrag auf jeden der Erwerber anteilig entsprechend der vom betreffenden Arbeitnehmer wahrgenommenen Aufgaben übergehen, sofern die daraus folgende Aufspaltung des Arbeitsvertrags möglich ist.
2. Sachverhalt der Entscheidung des EuGH
Der EuGH hatte über die ihm vom Arbeitsgerichthof Gent vorgelegte Frage zur Auslegung der europäischen Betriebsübergangs-Richtlinie (Artikel 3 I der Richtlinie 2001/23/EG) zu entscheiden.
Im Ausgangsverfahren vor dem Arbeitsgerichtshof Gent war Frau Govaerts bei der ISS Facility Services NV („ISS“) seit dem 16. November 1992 beschäftigt. ISS war unter verschiedenen Losen für die Reinigung und Instandhaltung mehrerer Gebäude der Stadt Gent zuständig. Los 1 umfasste Museen und historische Gebäude, Los 2 Bibliotheken und Gemeindezentren, Los 3 Verwaltungsgebäude. Frau Govaerts war seit dem 1. April 2013 bei ISS als Projektleiterin für sämtliche drei Lose eingesetzt. Im Rahmen einer Neuausschreibung der drei Lose verlor ISS sämtliche Aufträge. Am 13. Juni 2013 wurden die Lose 1 und 3 an Atalian und das Los 2 an Cleaning Masters NV vergeben. Während ISS davon ausging, dass ein Betriebsübergang vorlag, unter dem das Arbeitsverhältnis von Frau Govaerts auf Atalian übergegangen sei, nahm Atalian die Rechtsposition ein, ein solcher Betriebsübergang liege nicht vor und ein Vertragsverhältnis zwischen ihr und Frau Govaerts bestehe daher nicht. In der Folge erhob Frau Govaerts vor dem Arbeitsgericht Gent eine Klage gegen ISS und Atalian auf Zahlung einer Kündigungsentschädigung. Das Arbeitsgericht verurteilte ISS zur Zahlung dieser Kündigungsentschädigung, wies die Klage gegen Atalian jedoch als unzulässig ab. Das Arbeitsgericht Gent ging davon aus, dass ein Betriebsübergang betreffend das Arbeitsverhältnis von Frau Govaerts nicht erfolgt sei, da sie administrative und organisatorische Aufgaben wahrnahm, jedoch nicht an den Reinigungsarbeiten in den betroffenen Gebäuden mitwirkte, die Gegenstand des Betriebsübergangs waren. Im Berufungsverfahren vor dem Arbeitsgerichthof Gent trug ISS vor, das Arbeitsverhältnis von Frau Govaerts sei zu 85 % auf Atalian und zu 15 % auf Cleaning Masters NV übergegangen. Der Arbeitsgerichtshof Gent würdigte den Sachverhalt abweichend von der Entscheidung des Arbeitsgerichts Gent und ging davon aus, dass ein Betriebsübergang im Sinne der Betriebsübergangs-Richtlinie gemäß der umsetzenden belgischen Regelung vorliege, der auch das Arbeitsverhältnis der Klägerin erfasse. Hierbei müsste es, so das Berufungsgericht, zu einem gesetzlich angeordneten Übergang des Arbeitsverhältnisses von Frau Govaerts auf Atalian und Cleaning Masters NV gekommen sein.
Zur Klärung der europarechtlichen Konformität dieses Ergebnisses setzte der Arbeitsgerichthof Gent das Verfahren aus und legte dem EuGH im Wege einer Vorabentscheidung die Frage vor, ob (1) beim Übergang einer wirtschaftlichen Einheit auf verschiedene Erwerber das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der in jedem der übertragenen Teile beschäftigt war, auf jeden Erwerber übergeht und zwar im Umfang der Beschäftigung des Arbeitnehmers, (2) das Arbeitsverhältnis auf den Erwerber derjenigen Unternehmensteile übergeht, in dem der Arbeitnehmer hauptsächlich beschäftigt war, oder (hilfsweise) (3) in einem solchen Fall überhaupt kein Übergang des Arbeitsverhältnisses stattfindet.
3. Entscheidung des EuGH
Im Ausgangspunkt stellte der EuGH fest, dass die Betriebsübergangs-Richtlinie den Fall des Übergangs eines Arbeitsverhältnisses auf mehrere Erwerber nicht regelt. Gleichzeitig nimmt der EuGH das Ziel der Betriebsübergangs-Richtlinie in den Blick, soweit wie möglich die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen mit dem Erwerber in unveränderter Form sicherzustellen, um eine Verschlechterung der Lage der betroffenen Arbeitnehmer allein auf Grund des Übergangs zu verhindern. Neben dem Schutz der betroffenen Arbeitnehmer, strebe die Betriebsübergangs-Richtlinie auch den Ausgleich mit den Interessen des Erwerbers an. Ferner stellt der EuGH klar, dass für die Frage des Vorliegens eines Betriebsübergangs unerheblich sei, ob die wirtschaftliche Einheit auf einen oder mehrere Erwerber übergehe. Damit schied der EuGH die dritte Variante der vom Arbeitsgerichthof Gent gestellten Vorlagefrage, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht vom Betriebsübergang erfasst sei, aus.
Im Rahmen der Prüfung der Vorlagefrage, ob das Arbeitsverhältnis lediglich auf den Erwerber übergehe, bei dem der Arbeitnehmer seine Aufgaben hauptsächlich wahrnehme, gelangt der EuGH zu dem Ergebnis, dass dies die Interessen des betreffenden Erwerbers nicht hinreichend berücksichtige. Dies deshalb, weil auf diesen Erwerber ein Vollzeitarbeitsvertrag übergehe, der betreffende Arbeitnehmer seine Aufgaben jedoch nur in Teilzeit wahrzunehmen hätte, nämlich in dem Umfang, in dem er beim vorherigen Inhaber für diesen Teilbetrieb tätig war. In der Folge bejaht der EuGH einen anteiligen Übergang des Arbeitsverhältnisses auf jeden Erwerber, entsprechend der vom Arbeitnehmer wahrgenommenen Aufgaben. Hierdurch sieht der EuGH den Ausgleich zwischen dem Arbeitnehmerinteresse und dem jeweiligen Erwerberinteressen gewahrt. Die praktischen Folgen der Umsetzung einer solchen Aufteilung eines Arbeitsverhältnisses auf mehrere Erwerber, habe das nationale Gericht vor dem Hintergrund der nationalen arbeitsrechtlichen Vorschriften zu entscheiden. Als Aufteilungsmaßstab hält der EuGH den wirtschaftlichen Wert der Lose für ebenso zulässig, wie die tatsächlich für jedes Los aufgewendete Zeit.
4. Folgen für die Praxis in Deutschland
Die Entscheidung des EuGH erscheint für die Arbeitsrechtspraxis problematisch. Die Zuordnung von Mitarbeitern bei Teilbetriebsübergängen gab bereits in der Vergangenheit Anlass zu Streit.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes („BAG“) sollen für eine solche Zuordnung die Umstände im Zeitpunkt des Betriebsübergangs maßgeblich sein. Inhaltlich soll sich die Zuordnung in erster Linie nach dem Willen der Arbeitsvertragsparteien richten. Ist eine Zuordnung hiernach nicht möglich, muss sie nach objektiven Kriterien erfolgen. Hierbei stellt das BAG darauf ab, ob der Arbeitnehmer in den übergegangenen Betrieb(steil) tatsächlich eingegliedert war. Um diesem Betriebsteil anzugehören reicht es nicht aus, wenn der Arbeitnehmer lediglich (auch) für diesen Betriebsteil Tätigkeiten verrichtet hat. Vielmehr stellt das BAG in seiner Rechtsprechung darauf ab, in welchem Betriebsteil der Arbeitnehmer überwiegend, d.h. im Schwerpunkt, tätig war und wendet dieses Kriterium auch bei zeitlich befristeten Tätigkeiten in anderen Betriebsteilen an. Verbleibt nach Prüfung dieser Kriterien weiterhin Unklarheit, welchem Betriebsteil der betroffene Arbeitnehmer angehört, so geht die Rechtsprechung der Landesarbeitsgerichte in Deutschland, gemeinsam mit Teilen der juristischen Literatur, davon aus, dass dem Arbeitnehmer in Anlehnung an sein Widerspruchsrecht hier ein Wahlrecht zustehe, ob er bei dem verbleibenden oder dem übernommenen Betriebsteil zugeordnet werden wolle.
Der gefestigten Rechtsprechung des BAG zur sog. Schwerpunktformel bei der Zuordnung von Arbeitnehmern zu übergehenden Betriebsteilen setzt der EuGH nun eine konträre Rechtsauffassung entgegen, die vor den deutschen Arbeitsgerichten nicht unberücksichtigt bleiben kann. Wie die Aufteilung eines Arbeitsverhältnisses in der Praxis rechtlich umgesetzt werden soll, bleibt offen. Des Weiteren ist fraglich, ob für vergleichbare Fälle die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit überhaupt einen Übergang des Arbeitsverhältnisses der Klägerin gemäß § 613a BGB angenommen hätte. Bei Arbeitnehmern, die wie im vom EuGH entschiedenen Fall Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, gelangt man nicht selten zu dem Ergebnis, dass deren Arbeitsverhältnisse unter dem Betriebsübergang nicht übergehen. Anstatt das Arbeitsverhältnis von Verwaltungsmitarbeitern (künstlich) auf mehrere Erwerber aufzuspalten, erscheint es naheliegender, dass lediglich die Arbeitnehmer, die unter den verschiedenen Losen in den Teilbetrieben mit Reinigungstätigkeiten befasst waren, auf den jeweiligen Erwerber übergegangen sind, nicht jedoch Arbeitnehmer des Verwaltungsapparats. Diese bleiben regelmäßig beim Veräußerer zurück. Ob dieses in einer Vielzahl von Fällen sachgerecht erscheinende Ergebnis vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH zu halten ist, bleibt abzuwarten.
Ausdrücklich hat der EuGH in der hier besprochenen Entscheidung die (hilfsweise) vom belgischen Arbeitsgerichtshof gestellte dritte Vorlagefrage, ob gar kein Übergang des Arbeitsverhältnisses der Klägerin Betriebsübergang vorliege, verneint. Es bleibt zudem abzuwarten, wie der belgische Arbeitsgerichtshof den Fall vor dem Hintergrund des belgischen Arbeitsrechts entscheiden und ob er eine Aufspaltung des Arbeitsverhältnisses auf beide Erwerber vornehmen wird.
Für Sie da
Ansprechpartner zu diesem Thema
Dr. Arne Hansen, LL.M. (Wellington)
honert hamburg
Partner, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
Allgemeines Wirtschaftsrecht, Venture Capital, Arbeitsrecht, Transaktionen (M&A), Prozessführung und Schiedsverfahren, Gesellschaftsrecht
Telefon | +49 (40) 380 37 57 0 |
[email protected] |
Dr. Claudius Mann
honert hamburg
Partner, Rechtsanwalt
Allgemeines Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht, Prozessführung und Schiedsverfahren, Gesellschaftsrecht
Telefon | +49 (40) 380 37 57 0 |
[email protected] |