DIE VIRTUELLE HAUPTVERSAMMLUNG – ERSTE ERFAHRUNGEN UND TRENDS
Mit dem Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020 hat der Gesetzgeber auf die Corona-Krise reagiert und eine Reihe substanzieller Regelungen im Insolvenz- und Gesellschaftsrecht vorübergehend suspendiert oder modifiziert.
Die als Art. 2 unter dem sperrigen Titel „Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie“ („COVID-19-Gesetz“) erlassenen Regelungen für das Gesellschaftsrecht zielen insbesondere darauf, Unternehmen mit einem größeren Gesellschafterkreis ungeachtet von bestehenden Beschränkungen der Versammlungsmöglichkeiten handlungsfähig zu halten. Das COVID-19-Gesetz sieht deshalb in § 1 substantielle Erleichterungen für die Durchführung von Hauptversammlungen der AG, der KGaA und der SE vor.
I. Einführung
Die mit Abstand praxisrelevanteste Neuerung findet sich in § 1 Abs. 2 COVID-19-Gesetz, der das in § 118 Abs. 1 AktG verankerte Präsenzprinzip für Hauptversammlungen vorübergehend aufhebt: Bis zum 31. Dezember 2020 stattfindende Hauptversammlungen können danach gänzlich ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten als rein „virtuelle Hauptversammlung“ abgehalten werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung erfolgt, die Stimmrechtsausübung der Aktionäre über elektronische Kommunikation möglich ist, den Aktionären eine Fragemöglichkeit im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt wird und die Aktionäre, die ihr Stimmrecht ausgeübt haben, die Möglichkeit zum Widerspruch gegen einen Beschluss der Hauptversammlung erhalten.
Die Möglichkeit zur Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung haben ausweislich der im Bundesanzeiger veröffentlichten Einberufungen in den ersten beiden Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes nahezu alle in Deutschland börsennotierten Gesellschaften in der Rechtsform der AG, der KGaA und der SE genutzt, so dass sich erste „Standards und Trends“ für einige in der Praxis bedeutsame Fragen ablesen lassen, zu denen das COVID-19-Gesetz keine oder zumindest keine klaren Vorgaben trifft.
II. Verkürztes Fristenregime für die Einberufung
Nach § 1 Abs. 3 COVID-19-Gesetz kann die Hauptversammlung mit verkürzter Frist einberufen werden. Nach dem AktG muss die Einberufung „mindestens 30 Tage vor dem Tag der Versammlung“ einberufen werden. Diese Mindestfrist verlängert sich in der Regel um die sechstägige Anmeldefrist. Da bei der Fristberechnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 AktG der Tag der Einberufung nicht mitzurechnen ist, beträgt die reguläre Einberufungsfrist nach dem AktG somit grundsätzlich 37 Tage. Für die im Jahr 2020 stattfindenden Hauptversammlungen reicht es hingegen nach § 1 Abs. 3 COVID-19-Gesetz, die Hauptversammlung „am 21. Tag vor dem Tag der Versammlung“ einzuberufen. Dadurch wird die 30-Tage-Frist des § 123 Abs. 1 Satz 1 AktG suspendiert und rechtlich in einen Termin umgewandelt, mit der Folge, dass § 123 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht anwendbar ist und somit bei der Berechnung der Frist der Tag der Einberufung nicht mitzählt.
Es reicht daher nach dem COVID-19-Gesetz, wenn die Einberufung tatsächlich am 21. Tag vor der Versammlung im Bundesanzeiger veröffentlicht wird. Zu beobachten ist, dass in der Praxis gleichwohl viele Gesellschaften aus Vorsichtsgründen die Versammlung am 22. Tag vor der Versammlung einberufen. Für den Fall der Einberufung mit verkürzter Einberufungsfrist ist der Nachweisstichtag für den Aktienbesitz (Record Date) zudem nicht wie im AktG vorgesehen auf den 21. Tag, sondern auf den 12. Tag vor der Hauptversammlung zu beziehen und die Anmeldung der Aktionäre muss der Gesellschaft nicht wie im AktG vorgesehen mindestens sechs Tage, sondern spätestens am vierten Tag vor der Versammlung zugehen.
Aufgrund dieses verkürzten Fristenregimes verkürzt sich auch die Zeit, die den HV-Dienstleistern für den Versand der HV-Unterlagen und den Aktionären für die Anmeldung zur Hauptversammlung zur Verfügung steht. Die Zahl der Gesellschaften, welche die verkürzte Einberufungsfrist nutzen, hält sich wohl nicht zuletzt aus diesem Grund bisher die Waage zu den Gesellschaften, die nach dem regulären Fristenregime des AktG einberufen.
III. Teilnehmer der virtuellen Hauptversammlung
Das COVID-19-Gesetz regelt nur, dass die Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre und ihrer Bevollmächtigten stattfinden kann. Eine ausdrückliche Regelung, welche Personen in der Versammlung präsent sein müssen, fehlt. Einigkeit besteht insoweit, dass zumindest der Versammlungsleiter (i.d.R. der Aufsichtsratsvorsitzende) und bei börsennotierten Gesellschaften der protokollierende Notar (§ 130 Abs. 1 AktG) anwesend sein müssen. Darüber hinaus wird einhellig die Anwesenheit eines Vorstandsmitglieds, in der Regel des Vorstandsvorsitzenden, für erforderlich gehalten, um die Jahresabschlussunterlagen zu erläutern und die Fragen der Aktionäre zu beantworten. § 118 Abs. 3 AktG, der prinzipiell die Teilnahmepflicht aller Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat an der Hauptversammlung statuiert, wird im Rahmen des COVID-19-Gesetzes dagegen nach überwiegender Auffassung dahin ausgelegt, dass die übrigen Organmitglieder im Wege der Bild- und Tonübertragung zugeschaltet werden dürfen.
IV. Gegenanträge und Wahlvorschläge
Das COVID-19-Gesetz enthält keine Suspendierung von §§ 126 und 127 AktG, wonach die Aktionäre Gegenanträge und Wahlvorschläge zu den Beschlussvorschlägen der Verwaltung übermitteln können. Werden solche Gegenanträge mindestens 14 Tage vor der Versammlung übersandt, sind diese den Aktionären auf der Internetseite der Gesellschaft zugänglich zu machen. Nach den allgemeinen aktienrechtlichen Grundsätzen ist ein Gegenantrag mit der Übersendung jedoch lediglich angekündigt. Abzustimmen ist über einen solchen angekündigten Gegenantrag oder Wahlvorschlag nur dann, wenn er auch tatsächlich „in der Versammlung“ gestellt wird. Da die virtuelle Hauptversammlung ohne Teilnahme der Aktionäre stattfindet, entfallen folglich auch die Antragsrechte der Aktionäre in der Versammlung. Das bedeutet, dass Gegenanträge und Wahlvorschläge zwar unter den gesetzlichen Voraussetzungen übersandt werden können und auch zugänglich zu machen sind. Diese Anträge brauchen aber in der virtuellen Hauptversammlung nicht behandelt und auch nicht zur Abstimmung gestellt zu werden. Dies stellt offensichtlich eine erhebliche Verkürzung der Aktionärsrechte dar.
Auch wenn dies im Konzept des COVID-19-Gesetzes so angelegt ist, lässt sich in der Praxis beobachten, dass eine Reihe von Unternehmen eingereichte Gegenanträge in der Hauptversammlung nicht einfach übergeht, sondern zugunsten der Aktionäre bereits in der Einberufung ankündigt, ordnungsgemäß eingereichte Gegenanträge und Wahlvorschläge als in der Versammlung gestellt zu behandeln. Dies wird zumeist mit einer Frist für das Einreichen von Anträgen und Wahlvorschlägen verbunden, wonach nur solche Anträge und Wahlvorschläge berücksichtigt werden, die innerhalb der 14-Tage-Frist des § 126 AktG oder entsprechend der Befristungsmöglichkeit für das Einreichen von Fragen nach § 1 Abs. 2 COVID-19-Gesetz spätestens zwei Tage vor der Versammlung an die Gesellschaft übermittelt worden sind.
V. Fragemöglichkeit der Aktionäre
§ 1 Abs. 2 COVID-19-Gesetz beschränkt das sonst geltende Auskunftsrecht des § 131 AktG für die virtuelle Hauptversammlung auf ein reines Fragerecht und stellt die Beantwortung der Fragen weitgehend in das Ermessen des Vorstands. Das Gesetz eröffnet insbesondere die Möglichkeit vorzusehen, dass Fragen spätestens zwei Tage vor dem Tag der Versammlung an die Gesellschaft zu übermitteln sind. Weiter kann der Vorstand Fragen thematisch zusammenfassen und bestimmen, in welcher Reihenfolge er die Fragen beantwortet. Schließlich können häufig gestellte Fragen bereits im Vorfeld der Hauptversammlung als FAQ auf der Internetseite der Gesellschaft beantwortet werden. Sie müssen dann nicht nochmals in der Hauptversammlung behandelt werden.
Auch wenn das COVID-19-Gesetz ausdrücklich zulässt, nicht alle Fragen der Aktionäre zu beantworten, besteht Einigkeit darüber, dass diese Möglichkeit nur unter besonderen Umständen in Anspruch genommen werden darf, etwa wenn sonst der übliche Zeitrahmen von vier bis sechs Stunden für die Abhaltung der Hauptversammlung nicht eingehalten werden kann. Soweit ersichtlich hat deshalb noch keine Gesellschaft Fragen ihrer Aktionäre unbeantwortet gelassen, zumal es bisher auch nicht zu der vom Gesetzgeber befürchteten Flut von Fragen im Rahmen der virtuellen Hauptversammlung gekommen ist. Auch die Vorabbeantwortung von Fragen durch Veröffentlichung von FAQs auf der Internetseite der Gesellschaft spielt bisher in der laufenden Hauptversammlungssaison keine Rolle.
VI. Stimmrechtsausübung über elektronische Kommunikation
Die HV-Dienstleister haben ebenfalls schnell auf die gesetzlichen Neuerungen reagiert und bieten Software an, die alle Anforderungen des COVID-19-Gesetzes erfüllt. Die entsprechenden Online-Portale ermöglichen den Aktionären den Zugang zum Live-Stream der Hauptversammlung und zur unkomplizierten elektronischen Ausübung des Stimmrechts, zum Stellen von Fragen, zum Erteilen von Vollmachten und zur Einlegung eines Widerspruchs gegen Beschlüsse der Hauptversammlung. Obgleich § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 COVID-19-Gesetz im Rahmen einer virtuellen Hauptversammlung lediglich die elektronische Briefwahl zu gestatten scheint, erlauben nahezu alle Gesellschaften daneben auch die „analoge“ schriftliche Briefwahl. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich eindeutig, dass es sich bei der Beschränkung auf die elektronische Briefwahl um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers handelt und die schriftliche Briefwahl durch § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 COVID-19-Gesetz nicht ausgeschlossen werden sollte.
VII. Fazit
Das COVID-19-Gesetz hat sich bisher in der Praxis gut bewährt. Die große Mehrheit der Gesellschaften nutzt die Möglichkeit zur Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung. Das vom Gesetzgeber angebotene Instrumentarium zur virtuellen Hauptversammlung hat trotz einiger offener Fragen zum Zusammenspiel mit den allgemeinen Regelungen des AktG schnell einen funktionierenden und nach bisherigem Stand auch von den Aktionären akzeptierten Standard für die diesjährige Hauptversammlungssaison hervorgebracht. Zwar wurde dem Vorstand gestattet, bei der AG und der KGaA die Hauptversammlung statt innerhalb der bisherigen Acht-Monatsfrist bis zum Jahresende durchzuführen (bei der SE gilt hingegen die bestehende 6-Monatsfrist fort). Nicht zuletzt wegen des Dividendeninteresses der Aktionäre, sollte die Hauptversammlung jedoch nicht in der Hoffnung auf bessere Zeiten als Präsenzversammlung auf ein noch unbekanntes Datum verschoben werden, sondern in diesem Jahr eine virtuelle Versammlung stattfinden. Die technischen und die rechtlichen Probleme sind beherrschbar.
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