DIE VIRTUELLE HAUPTVERSAMMLUNG DER AKTIENGESELLSCHAFT – VON DER BEFRISTETEN AUSNAHMEREGELUNG ZUR DAUERLÖSUNG?
Das COVID-19-Gesetz vom 27. März 2020 ermöglicht es Aktiengesellschaften und verwandten Rechtsformen noch bis Ende August 2022, ihre Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre als rein virtuelle Versammlungen abzuhalten. Aufgrund der überwiegend positiven Erfahrungen mit dieser Versammlungsform hat die Bundesregierung am 27. April 2022 den Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, durch welches die virtuelle Hauptversammlung dauerhaft als Alternative zur Präsenzversammlung in das Aktienrecht eingeführt werden soll. Gegenüber der noch geltenden Rechtslage nach dem COVID-19-Gesetz enthält der Entwurf allerdings gravierende Abweichungen.
I. Der Status Quo
Das COVID-19-Gesetz verlangt für die Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung lediglich, dass die Bild- und Tonübertragung der gesamten Hauptversammlung erfolgt, die Stimmrechtsausübung über elektronische Kommunikation sowie die Vollmachtserteilung möglich ist, den Aktionären eine Fragemöglichkeit im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt und den Aktionären, die ihr Stimmrecht ausgeübt haben, eine Möglichkeit zum Widerspruch gegen die Beschlussfassung eingeräumt wird. Gegenanträge von Aktionären sind nach dem AktG in der Versammlung zu stellen und deshalb grundsätzlich gemäß dem COVID-19-Gesetz nicht vorgesehen. Die Praxis ist jedoch dazu übergegangen, solche Anträge als in der Versammlung gestellt zu betrachten, wenn sie gemäß den aktiengesetzlichen Vorgaben und fristgemäß elektronisch übermittelt wurden. Ein Rederecht der Aktionäre in der virtuellen Hauptversammlung besteht nicht.
Zur Beantwortung von Fragen der Aktionäre ist der Vorstand nicht verpflichtet, sondern entscheidet nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen, welche Fragen er wie beantwortet und kann insbesondere anordnen, dass Fragen spätestens zwei Tage vor der Versammlung elektronisch einzureichen sind. Von der Anordnung der Vorabeinreichung wurde in der Praxis fast ausnahmslos Gebrauch gemacht, was einerseits zu einer Entzerrung der Hauptversammlung und andererseits zu einer erhöhten Anzahl und einer qualitativ besseren Beantwortung der Fragen in der Hauptversammlung führte. Festzustellen war auch, dass die erleichterte Teilnahmemöglichkeit mit einer größeren Aktionärsbeteiligung an den virtuellen Hauptversammlungen einherging. Alles in allem ist allerdings nicht zu verkennen, dass die aktiengesetzlichen Aktionärsrechte durch das COVID-19-Gesetz vorübergehend eingeschränkt wurden.
II. Der Regierungsentwurf
Ziel des Regierungsentwurfs ist es, die mit den virtuellen Hauptversammlungen der Jahre 2020 und 2021 gewonnenen positiven Erfahrungen für eine dauerhafte gesetzliche Regelung zu nutzen, dabei aber darauf zu achten, dass die Aktionäre im Falle einer virtuellen Hauptversammlung ihre Rechte weitestgehend vergleichbar wahrnehmen können wie bei der Präsenzversammlung.
Kern der Neuregelung, die nicht nur für Aktiengesellschaften, sondern auch für Gesellschaften in der Rechtsform der KGaA und der SE gilt, ist der neue § 118a AktG. Voraussetzung für die Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung ist danach zunächst eine entsprechende Grundlage in der Satzung der Gesellschaft, die vorsieht oder den Vorstand dazu ermächtigt, die Hauptversammlung virtuell abzuhalten. Eine solche Regelung muss auf längstens fünf Jahre befristet sein, d.h. die Hauptversammlung muss spätestens nach fünf Jahren erneut beschließen, ob virtuelle Hauptversammlungen möglich sein sollen. Für einen Übergangszeitraum bis Ende August 2023 soll die Abhaltung virtueller Versammlungen auch ohne Grundlage in der Satzung zulässig sein. Die Gesellschaften haben somit ausreichend Zeit, in der Hauptversammlung 2023 die erforderlichen Satzungsregelungen zu beschließen.
Das Rede- und Fragerecht wird durch den Regierungsentwurf im Vergleich zum COVID-19-Gesetz erheblich ausgeweitet. Die Aktionäre sind danach berechtigt, bis fünf Tage vor der Hauptversammlung Stellungnahmen zu Gegenständen der Tagesordnung einzureichen, die von der Gesellschaft bis spätestens vier Tage vor der Versammlung zugänglich zu machen sind. Zwar kann die Verwaltung den Umfang solcher Stellungnahmen angemessen begrenzen. Allerdings lässt der Regierungsentwurf offen, was damit gemeint ist und beschränkt das Recht zur Stellungnahme auch nicht auf die Aktionäre, die ordnungsgemäß zur Hauptversammlung angemeldet sind.
Abweichend vom COVID-19-Gesetz erhalten die Aktionäre nach dem Regierungsentwurf ein unmittelbares Rederecht in der Hauptversammlung. Eine Möglichkeit, Redebeiträge von vornherein auf einen angemessenen Gesamtzeitraum oder auf eine angemessene Anzahl der zuzulassenden Redebeiträge zu begrenzen, sieht der Regierungsentwurf nicht vor. Eine Anmeldung des Redebeitrags im Vorfeld der Hauptversammlung ist ebenfalls nicht erforderlich. Der Regierungsentwurf geht von der Einrichtung eines virtuellen Meldetischs in der Versammlung aus, bei dem Wortmeldungen angemeldet werden können. Über Verkürzungen der Redezeit oder die Schließung der Rednerliste entscheidet wie in der Präsenzversammlung der Versammlungsleiter.
Das Auskunfts- und Fragerecht der Aktionäre soll nach dem Regierungsentwurf ebenfalls deutlich erweitert werden. Zwar kann in der Einberufung bestimmt werden, dass Fragen bis spätestens drei Tage vor der Versammlung elektronisch einzureichen sind. Anders als das COVID-19-Gesetz verpflichtet der Regierungsentwurf die Verwaltung aber, diese Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung auch zu beantworten und den Aktionären zugänglich zu machen. Fragen, die bereits im Vorfeld der Versammlung auf der Internetseite der Gesellschaft zugänglich gemacht und beantwortet worden sind, muss der Vorstand in der Hauptversammlung nicht nochmals beantworten. Diese scheinbare Erleichterung wird jedoch durch das neu eingeführte Nachfragerecht stark relativiert. Dieses Nachfragerecht bezieht sich auf alle vorab eingereichten Fragen, auf alle vorab oder in der Versammlung gegebenen Antworten sowie auf Fragen, die erst in den Redebeiträgen der Aktionäre gestellt werden. Zur Nachfrage berechtigt ist nicht nur der Aktionär, der die Frage gestellt hat, sondern jeder Aktionär bezüglich aller gestellter Fragen und aller diesbezüglicher Antworten.
Schließlich gewährt der Regierungsentwurf abweichend vom COVID-19-Gesetz den Aktionären auch ein umfassendes Recht zur Stellung von Anträgen und Wahlvorschlägen in der virtuellen Versammlung. Die bisher bereits in der Praxis etablierte Fiktion, wonach ordnungsgemäß und fristgerecht eingereichte und damit den Aktionären im Vorfeld zugänglich zu machende Gegenanträge als im Zeitpunkt der Zugänglichmachung gestellt gelten, übernimmt der Regierungsentwurf ebenfalls.
III. Fazit
Das Ziel des Regierungsentwurfs, die virtuelle Hauptversammlung insbesondere bezüglich der Aktionärsrechte den aktiengesetzlichen Vorgaben an die Präsenzversammlung anzugleichen, erscheint verständlich. Bei der Umsetzung schießt der Regierungsentwurf aber an einigen Stellen über das Ziel hinaus. So wird vor allem die bei der virtuellen Versammlung nach dem COVID-19-Gesetz erreichte Entlastung der Hauptversammlung von Fragen und Aktionärsanträgen, die in das Vorfeld der Hauptversammlung verschoben wurden, durch das unbegrenzte Nachfrage- und Antragsrecht in der Versammlung wieder aufgehoben. Die Gesellschaften müssen nach dem Regierungsentwurf Aktionärsfragen bereits vor der Hauptversammlung beantworten und die Antworten auf der Internetseite zugänglich machen. Sie müssen aber zudem damit rechnen, dass in der Versammlung noch zahlreiche und umfangreiche Nachfragen gestellt werden und zu beantworten sind. Weiter sind bereits im Vorfeld der Hauptversammlung eingehende Stellungnahmen zu prüfen und zugänglich zu machen.
Der Aufwand für die Gesellschaften wird dadurch deutlich erhöht, die Anforderungen an das Backoffice dürften im Ergebnis höher sein als in der herkömmlichen Präsenzversammlung. Der weitere Effekt der aktuellen Gesetzeslage, dass nämlich virtuelle Hauptversammlungen in zeitlich überschaubarem Rahmen abgewickelt werden können, wird durch den Regierungsentwurf ebenfalls wieder in Frage gestellt. Der Regierungsentwurf ist deshalb auf deutliche Kritik aus der Wirtschaft gestoßen. Ob das Gesetz wie geplant am 1. August 2022 in Kraft treten wird, bleibt abzuwarten. Nach der ersten Lesung im Bundestag am 12. Mai 2022 wurde die Gesetzesvorlage zur weiteren Beratung in den Rechtsausschuss überwiesen.
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